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22. September 2022

Jugend schreibt – Zwei Reportagen unserer Schüler*innen

Im Rahmen der Begabtenförderung hat eine Schülergruppe an dem bekannten Projekt „Jugend schreibt“ der FAZ teilgenommen. Dabei lernen die SuS das journalistische Schreiben, das wichtigste Textformat ist dabei Reportage. Hierzu mussten sie sich selbständig Themen überlegen, Interviews mit Expert*innen führen und zum Thema recherchieren. Die Texte mussten sie alleine schreiben, die Lehrkraft durfte nur Hilfestellung geben. Am Ende wurden die Texte von der FAZ überarbeitet und werden mit etwas Zeitverzug Bereich „Jugend schreibt“ veröffentlicht. Die besten Texte kommen am Ende in einen Wettbewerb, aus dem zwei Jahressieger*innen hervorgehen.

Janna Strube

 

 

Reportage von Olivia Bahr

LONDON

Niklas, ich rufe dich auf dem Telefon an, damit das nicht verfolgt wird. Ich wollte dich nur kurz warnen. Da kommt was auf dich zu.

Mit diesen Worten meldet sich ein Kollege des ehemaligen Facebook, mittlerweile „Meta“ – Mitarbeiters Niklas Steenfatt bei ihm. Kurz vorher sei der Kollege in einem dringenden, streng vertraulichen Meeting mit Mitarbeitern des Employment Investigations Team gewesen. Das Team, von dem Steenfatt nicht einmal wusste, dass es existiert. Das Team, das ein ganz neues Licht auf den Großkonzern von Mark Zuckerberg wirft.

Inside Facebook – Die hässliche Wahrheit“ – das von Sheera Frenkel und Cecilia Kang verfasste Buch betrachtet den Großkonzern Meta aus kritischen Perspektiven. Die Reporterinnen der „New York Times“ präsentieren Meta in ihrem Buch mit Details, die Zuckerberg sicherlich lieber intern gewahrt hätte. Dass Mitarbeiter alle privaten Daten samt Passwort, Adresse und Privatnachrichten  mitlesen konnten und die Führungsebene des Konzerns Russlands Manipulationsversuche bei der Wahl des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump monatelang verschwieg, ist also kein Geheimnis mehr. Im vierten Kapitel „Die Rattenfängerin“ wird geradezu nebenbei beschrieben, dass auch für die eigenen Mitarbeiter keinerlei Datenschutz zu gelten scheint. Allesamt arbeiten unter strengen Richtlinien und dürfen in der Öffentlichkeit nicht einmal darüber sprechen, über welche Themen sie nicht sprechen dürfen. Und falls doch einmal etwas durchsickert, sei man nicht weit von der sofortigen Entlassung entfernt. Offensichtlich kritisiert zu werden, scheint in diesem Kapitel aber weder das Verhalten der betroffenen Mitarbeiter, noch das Verhalten der Führungsebene.

Die Gemeinpolizei – Wie Facebook seine Mitarbeiter überwacht“ – so lautet das vor etwa einem Monat erschienene Video des YouTubers und Ex-Facebook Mitarbeiters Niklas Steenfatt. Was er dort zu erzählen hat, ist unglaublich und malt von den „Rattenfängern“ in ein ganz neues, dunkles Bild.

sportlich – intelligent – freundlich.

Wenn man sich auf Steenfatts Social Media Kanälen umschaut, wären das wohl drei Möglichkeiten, Niklas Steenfatt als Menschen zu beschreiben, ohne ihn gut kennen oder ein Wort mit ihm gewechselt haben zu müssen. Und auch nach einem persönlichen Treffen bleibt dieser Eindruck mindestens bestehen, wenn er nicht sogar verstärkt wird. Doch wer verbirgt sich hinter diesem Namen?

Steenfatt ist 28 Jahre alt.

Nachdem er sein Abitur an einem Hamburger Gymnasium mit einem Schnitt von 1,0 absolviert hat, beginnt Steenfatt seine Ausbildung im technisch – informatischen Bereich an der Universität Hamburg, an welcher er 2015 als Jahrgangsbester sein Informatikstudium beendet.

Im Anschluss studiert er zwei Jahre lang Mathematik an der University of Cambridge bevor er erneut als Jahrgangsbester den Studiengang Data & Knowledge an einer französischen Hochschule in Paris beendet.

2017 beginnt er dann, bei Facebook zu arbeiten. Zuerst im Zuge eines Sommerpraktikums, 2018 dann als Data und später als Software Engineer.

Mit drei Hochschulabschlüssen, drei Jahren Arbeitserfahrung im Ausland, insgesamt 7 beherrschenden Programmiersprachen und einer guten Portion Bodenständigkeit im Gepäck scheint es keine sehr große Überraschung zu sein, dass Steenfatt 2017 bei einem Großkonzern wie Meta eingestellt wird.

Nebenbei produziert Steenfatt seit nun etwa 2 Jahren Videos auf der Streaming-Plattform YouTube – und das sehr erfolgreich.

Mit aktuell 194.000 Followern veröffentlicht Steenfatt regelmäßig Videos zu Themen wie Informatik und Technik, Self-development, Finanzen oder Schach. Vor kurzem kam ein weiteres Thema hinzu: Facebook / Meta.

HAMBURG

Die „Schramme 10“ in Eppendorf wirkt schon ein wenig, als würde sie bald schließen wollen. Tische werden eingeräumt, Schirme werden eingeklappt. Bevor ich hineingehe, warte ich noch einen Moment, um das Gespräch, das Steenfatt aktuell führt, nicht zu unterbrechen.

Spontan hat er in seinem eng getakteten Kalender eine kleine Lücke gefunden, um von seiner Geschichte zu erzählen. Er arbeitet an  diesem Tag, wie so häufig, bis 22 Uhr, also bleibt unserem Treffen nur der späte Abend.

Während man das Restaurant, das zu dieser Uhrzeit eher wie eine Kneipe wirkt, betritt, sind leise Musik und der Geruch von etwas morschen Holzmöbeln wahrzunehmen. An der Tür werde ich von seinem Gesprächspartner in Empfang genommen. Mit geschlossenen Augen würde man, der Geräuschkulisse nach zu urteilen, viele Gäste vermuten. Doch sie täuscht. Verstreut sitzen einige wenige an der Bar, eine kleine Gruppe an einem Tisch. Viel Beleuchtung und Niklas Steenfatt sind erst im hinteren, etwas ruhigeren Teil der Bar zu finden, wo er sich mit seinem Gesprächspartner niedergelassen zu haben scheint.

Steenfatt scheint sich tatsächlich schon einige Minuten mit seinem Gegenüber unterhalten zu haben. Oder er ist einfach sehr schnell im Erdnüsse knacken und verzehren.

Als ich mich an den Tisch setze, ist er noch in sein Handy vertieft. Man könnte es als unhöflich betiteln, wenn Steenfatt einem nicht zugleich mit leichtem Schmunzeln den Satz

Ein Moment, gleich bin ich etwas weniger unprofessionell.“ als charmanten Nachsatz ergänzen würde.

Er trägt, wie in nahezu all seinen Videos auf YouTube, ein schlichtes, schwarzes T-Shirt. Das habe, wie er in einem der Videos erläutert, pragmatische Gründe.

Einige Sekunden später stellt er sich vor, der Einstieg in ein Gespräch fällt alles andere als schwer. Dass ihm, außer einer gewissen Vorsicht und Nachdenklichkeit bei allem, was er von sich gibt, nichts von seinem beeindruckenden Lebenslauf und all dem Erfolg in seinem noch sehr jungen Leben anzumerken ist, kann sicherlich als eine gewisse Art von Bodenständigkeit interpretiert werden.

Es ist ein schmaler Grad zwischen aufgeschlossen, doch zugleich nicht naiv sein, den Steenfatt mittlerweile zu meistern weiß.

Die Vorsicht, die er an den Tag legt, kann aber ebenso mit seiner Vergangenheit bei dem Großkonzern Facebook, heute Meta, zusammenhängen.

Am 13. Februar 2022 tritt Steenfatt zum ersten Mal bei YouTube mit dem Thema an die Öffentlichkeit. Er arbeitet nicht mehr bei Meta.

Warum ich meinen Job bei Facebook gekündigt habe“ lautet der Titel des Videos, welches bisher über 420.000 mal angesehen wurde.

Steenfatt, der sich sonst zwar ehrlich, aber dennoch sehr bedacht äußert, berichtet in diesem Video von einem „Ausmaß an Dummheit und Kompromisslosigkeit, mit dem [er] da in der Firma konfrontiert wurde.“ Eine Aussage, der Erklärung bedarf.

Der Ursprung des Konflikts zwischen ihm als Mitarbeiter und dem Konzern lege, wie er in seinem Youtube Video wie auch in der Schramme 10 erzählt, bei den sogenannten „employment policies“, also den Gesetzen, an die sich alle Mitarbeiter von Meta halten müssen.

Eines der Gesetze besagt, dass sich ein Mitarbeiter in der Öffentlichkeit nicht zu der Tech – Industry äußern darf.

Zwar berichtete Steenfatt zu seiner Zeit bei Facebook immer nur sehr positiv über den Konzern, allerdings tat er es – und dazu hatte er laut Gesetz kein Recht. Steenfatt geht soweit, zu sagen, sein Kanal sei „der absolute Lichtblick in einer ansonsten ziemlich düsteren Facebook PR-Landschaft“ gewesen.

Und tatsächlich – im Internet findet sich, abgesehen von firmeneigenen Webseiten und Berichten, wenig Positives über den Konzern. Insbesondere auf Youtube ist nahezu nur Kritik an allen und allem zu finden, das in irgendeiner Art und Weise mit Meta in Verbindung steht.

Die Tatsache, dass wegen der guten Kritik, die Steenfatt auf YouTube veröffentlichte, ein Konflikt entsteht, scheint schon fragwürdig. Doch die Art und Weise, wie dieser Konflikt ausgetragen wurde, hätte, so Steenfatt „Schlagzeilenpotential“.

Ein weiteres Youtube Video veröffentlicht Niklas Steenfatt am 4. Juni 2022. Hier wird klar, was mit Schlagzeilenpotential gemeint war.

Das knapp 25-minütige Video mit dem Titel „Die Geheimpolizei – wie Facebook seine Mitarbeiter überwacht“ hat es in sich. Dort und auch in der Schramme 10 beginnt er zu berichten, was für ein „Psycho-Terror“ hinter ihm liegt.

Begonnen habe alles mit dem Anruf eines damaligen Kollegen Steenfatts.

Niklas, ich rufe dich auf dem Telefon an, damit das nicht verfolgt wird. Ich wollte dich nur kurz warnen. Da kommt was auf dich zu.“

Nach wenigen Nachfragen stellt sich heraus, dass der Kollege zuvor Teil eines sehr dringenden, streng vertraulichen Meetings des sogenannten Employment Investigations team war.

Von diesem Team als solchem, so erzählt Steenfatt, während er weiterhin eine Erdnuss nach der anderen knackt, hatte er vorher noch nichts gehört, wusste also nicht einmal, dass es überhaupt existiert.

Das Employment Investigations team eines Konzerns, so schreibt Meta auf der eigenen Webseite, „[…]ist für alle Untersuchungen von Mitarbeiterangelegenheiten zuständig, die einen potenziellen Verstoß gegen das Gesetz oder die Unternehmensrichtlinien darstellen.[…]

Steenfatt trifft kurz darauf in seinem damaligen Büro in London auf einen weiteren Mitarbeiter, zu dem er merkwürdigerweise die zwei vorherigen Wochen wenig bis keinen Kontakt hatte.

Unauffällig, so berichtet Steenfatt in seinem Video, habe der Kollege ihm signalisiert, dass er schnellstmöglich unter vier Augen mit ihm reden wolle. Zu diesem Zeitpunkt wusste Steenfatt zwar, dass es wohl ein Verfahren gegen ihn gebe, hatte aber keine Ahnung, aus welchen Gründen.

Der Kollege erzählte ihm nun, dass er ebenfalls von dem Employment Investigations team befragt wurde. Das Thema sei sein Podcast „Niklas und Konsorten“ gewesen, den Steenfatt schon zu dieser Zeit produzierte und ebenso auf seinem Youtube Kanal veröffentlicht.

Zu genau diesem Podcast wurde Steenfatts Kollege nun über 14 Tage immer wieder befragt.

Auf die Frage, warum der Kollege Steenfatt nicht schon früher darauf angesprochen habe, heißt es, er hätte sich nicht getraut, da ihm ausdrücklich verboten wurde, mit irgendwem über die Inhalte der Befragungen wie die Befragung selbst zu sprechen. Zudem, so berichtete der Kollege Steenfatt, wurden ihm schon während der Befragung Screenshots von dem Chat zwischen dem Kollegen und Steenfatt vorgelegt.

Nach diesem Gespräch ist Steenfatt zutiefst beunruhigt, erzählt er, konnte aber mit niemandem darüber reden, da er offiziell noch nichts von alldem wusste.

Trotzdessen, dass diese Zeit, wie er in einem seiner Videos berichtet, psychisch extrem belastend war, berichtet er in einer sehr differenzierten wie rationalen Art und Weise über die Ereignisse.

Kurze Zeit später, so Steenfatt, mittlerweile mit einem Berg an Erdnussschalen vor sich liegen, habe er dann die Einladung zu einer Befragung über seinen Kalender erhalten. Da er als Beschuldigter befragt wurde, sei ein mehrseitiger Anhang mit allen Beschuldigungen und vermeintlichen Beweisen, bestehend aus Transkripten aller seiner YouTube Videos, ein Teil der Einladung gewesen.

Zwei Stunden lang habe das erste Investigation Meeting gedauert. Auf dem Tisch hätten erneut Transkripte seiner Videos wie öffentlicher Auftritte gelegen – allesamt ins Englische übersetzt. Denn, so erzählt Steenfatt, niemand, der an dem ganzen Prozess beteiligt war, habe Deutsch gesprochen.

Die Befragung sei schleppend verlaufen. Fragen seien indiskret und oft von rhetorischer Natur gewesen.

In den meisten Fällen, erzählt er, sei es nur darum gegangen, dass er sich zu Meta geäußert habe, und nicht, in welcher Weise er dies tat.

Was Steenfatt weiter berichtet, ist an Absurdität kaum zu übertreffen. Als Zuhörer kommt das immer stärker werdende Gefühl auf, Meta habe in den Befragungen nur noch Vorwände gesucht, Steenfatt zu entlassen.

Beispielsweise, so erzählt er, habe man ihm vorgeworfen, sich in einem Podcast rassistisch geäußert zu haben, in welchem es ironischerweise darum, ging, die in Serien auf Klischees basierten Witze eben nicht rassistisch zu interpretieren.

Ebenso sollen auch in diesem Gespräch Chatverläufe mit Kollegen Thema gewesen sein.

So unglaublich das alles scheint, so glaubwürdig berichtet Niklas Steenfatt davon. Abwechselnd hält er Augenkontakt mit seinen Gegenübern und den Erdnüssen, während er mit gewählten Worten das Erlebte berichtet. Hin und wieder nimmt er einen Schluck von seinem Bier, wobei er geschickt seine eigenen Redepausen nutzt.

Danach habe es noch ein Treffen gegeben, erzählt er, bei welchem ihm seine „naive Hoffnung“, aus alldem noch eine Win-Win-Situation zu machen, schlussendlich genommen worden sei.

Nach diesem Treffen kam es zu einem internen Urteil.

Niklas Steenfatt sollte demnach alle betroffenen Videos und Medien löschen, um eine zweite Chance bei dem Konzern zu erhalten.

Ein Deal, den Steenfatt nicht eingeht. Parallel, so berichtet er in einigen YouTube-Videos, habe er ein „traumhaftes Jobangebot“ von dem Unternehmen Masterschool erhalten. Dieses Angebot, so steenfatt weiter, hätte er wahrscheinlich auch ohne den Konflikt mit Meta angenommen.

Zwar wirkt Steenfatt, während er von alldem berichtet, nicht bedrückt, dennoch ist ihm anzumerken, dass ihm solch ein Ende bei dem Konzern auch lieber erspart geblieben wäre.

Rückblickend denkt er trotz allem, dass die Zeit bei dem Konzern eine sehr positive war. Er konnte sich als Programmierer weiterentwickeln und hatte die Chance, mit „smarten“ Menschen zusammenzuarbeiten. Denn, so fügt er hinzu, sein direktes Umfeld innerhalb des Unternehmens habe auch nichts mit der Investigation zu tun gehabt. Nicht einmal sein Manager soll direkt involviert gewesen sein.

Das Problem bei alldem, so erzählt er auf Nachfrage, liegt oder lag in dem gesamten Prozess.

Facebook habe nach einigen Skandalen was die Öffentlichkeitsarbeit betrifft, wie beispielsweise der Fall Francis Forgen, welche interne Dinge an die Presse gab und diese zudem sehr negativ darstellte, ein gewisses Budget bereitgestellt, um solche Fälle in Zukunft zu vermeiden. So gesehen, räumt Steenfatt ein, hatte Meta recht. Diese employment policies existierten und dagegen habe er verstoßen.

Die policies selbst allerdings, so sagt er, halte er für übertrieben. Dass man sich in der Öffentlichkeit überhaupt nicht zu der gesamten Tech – Industry äußern darf, kann er nicht nachvollziehen.

Nichtsdestotrotz erzählt Steenfatt, dass er nach wie vor privaten Kontakt zu ehemaligen Kollegen pflegt und auch viele Menschen im gesamten Konzern hinter ihm stehen.

So habe wurde er, erzählt er, auf einer Houseparty einer ehemaligen Kommilitonin in London von einem Meta – Mitarbeiter angesprochen, ob er denn der Niklas sei, der wegen Youtube gefeuert wurde.

In jedem Falle wisse das ganze Büro in London Bescheid und alle würden ihm den Rücken stärken.

So etwas zu hören, tut gut.

Lange Zeit glaubte Steenfatt, so berichtet er, er sei ein Einzelfall. Doch nach und nach habe er von einigen anderen ehemaligen Mitarbeitern von Großkonzernen, die wegen ähnlicher, absurder Gründe, befragt oder gar entlassen wurden.

So auch Charles Bahr.

Bahr ist 20 Jahre alt und sitzt Steenfatt in der Schramme 10 gegenüber, nimmt ebenfalls immer mal wieder einen genüsslichen Schluck von seinem Bier. Anders als Steenfatt knackt er keine Erdnüsse, fokussiert sich völlig auf das Erzählte.

Sein dunkelblau gemustertes Hemd trägt er mit dem obersten und untersten Knopf offen, was ihn souverän wirken lässt. Dazu trägt er eine beige Chino-Hose. Sein Auftreten ist geprägt von Zurückhaltung ohne Schüchternheit, was in Kombination mit Steenfatts bodenständiger Art eine angenehme Atmosphäre kreiert.

Steenfatt und Bahr lernen sich durch ihre ähnlichen Erfahrungen in Bezug auf ihren Ehemaligen Arbeitgeber kennen. Bis zuletzt arbeitet Bahr bei dem Großkonzern TikTok, bei welchem er ebenfalls von dem Konzern selbst befragt wurde. Der Ablauf, so Bahr, sei sehr ähnlich gewesen. Man erhält eine Einladung zu der Befragung über den Kalender, ohne dass die direkten Vorgesetzten etwas davon wissen. Die Befragungen selbst wurden auch bei ihm von nicht deutschsprachigen Mitarbeitern, teilweise ehemaligen Polizeibeamten, durchgeführt. Und auch die Ungewissheit, von der Steenfatt berichtete, kann Bahr nachvollziehen. Man weiß nicht, was einen erwartet, berichtet Bahr.

Zu dem Zeitpunkt der Investigation war Bahr 19 Jahre alt. Besonders in diesem jungen Alter muss solch eine psychische Belastung schwer zu händeln gewesen sein.

Zwar waren die Anschuldigungen bei Bahr nicht von gleicher Natur wie bei Steenfatt und teilweise auch nicht ganz unberechtigt, jedoch seien sie auch bei Bahr nicht mit dem letztendlichen Ausmaß ins Verhältnis zu setzen.

Letzten Endes haben sich Bahr und TikTok auf einen Vergleich geeinigt, wobei TikTok einige Vorwürfe wieder zurückgezogen hat. Und auch im Nachhinein, so erzählt Bahr, schreibt TikTok, dass sich alle Ermittlungen gegen ihn als haltlos erwiesen haben und sich die Vorwürfe nicht bestätigt haben.

Bahr, der an jenem Abend in der Schramme 10 eher als Zuhörer fungiert, stand im Anschluss an die Kündigung bei TikTok für kurze Zeit bei dem Unternehmen ServicePlan unter Vertrag und arbeitet nun, so berichtet er, an einem neuen Projekt.

Bahr und Steenfatt, die nun weiterhin ihr Bier genießen, machen noch ein gemeinsames Bild, welches Steenfatt auf Instagram in Form einer Story mit der Aufschrift „Das Letzte, was Facebook und TikTok sehen, bevor sie ihre Anwälte einschalten“ postet.

Erfahrungen verbinden eben.

 

Schlussendlich stellt sich die Frage, ob sich dieser Aufwand und Gegenwind, welchen sich die Großkonzerne mit ihren fragwürdigen Gesetzen und Methoden selbst herbeiführen, tatsächlich rechnet?

Denn, wenn ein Großkonzern nicht durch die eigenen Mitarbeiter getragen und weiterentwickelt wird, wodurch dann?

Reportage von Konstantin Matsui

Ein Hund, der Seelen heilen kann

Ein gleichmäßiges Kirchenläuten klingt durch das offenstehende Fenster des Behandlungszimmers. Schon der zunächst schweifende Blick suggeriert einige Besonderheiten dieses Raums. Denn anders als man es aus Arztpraxen kennt, werden die eigenen Augen sofort auf knallbunte Farben aufmerksam: das neongrüne Spielzeugauto am Rand der linken Wand oder die rosa Märchenpuppe, deren Kopf aus einer kleinen Kiste ragt. Ein kurzer Moment der Stille. Dann ertönt langsam ein immer lauter werdendes Schnarchen unter dem Schreibtisch. Ein deutliches „Ludwig!“ folgt. Es dauert kaum eine Sekunde, da streckt ein hübscher, mittelgroßer Labrador Retriever mit hellem Fell seine Schnauze hervor und verlässt den kleinen Schlafplatz. Er hat ein rotes Tuch um den Hals gebunden. Ein Mann im dunkelblauen Hemd mit kurzen, blonden Haaren lächelt dem schüchternen Mädchen, das ihm in der Mitte des Raumes gegenübersitzt, zu: „Nun kannst du es gerne selbst versuchen.“ Er drückt ihr eine kleine Federtasche in die Hand. Das Mädchen zögert kurz. Dann hebt sie den Zeigefinger. Sie ist erstaunt, als sich der Hund unmittelbar vor sie setzt. Sie greift in die Federtasche, holt eine braune, geriffelte Substanz heraus und legt sie dem Hund vor die Pfote. Ein Fingerzeichen später sind ein genussvolles Schmatzen und lautes Lachen zu hören.

Thomas Krömer kennt solche Szenen gut, denn schon seit vielen Jahren ist der Therapiehund Ludwig fester Bestandteil seiner Praxis. Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Alster in Hamburg sind sein Alltag. In den letzten Jahren haben psychische Erkrankungen zugenommen; sowohl in Hamburg als auch weltweit. Das liegt vor allem an der Coronapandemie. Zahlreiche Lockdowns mit Schulschließungen sorgten für Kontaktbeschränkungen, was das Sozialleben vieler Kinder und Jugendlicher erheblich einschränkte – die Folge: ein stetig wachsender Therapiebedarf. Therapiehunde werden für den Alltag der Therapeuten immer wichtiger.

Gerade verlässt die kleine Patientin das Zimmer, da tritt eine braunhaarige Frau in dem gleichen Hemd wie Herr Krömer selbst ein. Es ist seine Frau Katrin Koops, gemeinsam arbeiten sie in der Praxis. Für die beiden spielt Ludwig nicht nur beruflich, sondern auch privat eine große Rolle. „Ludwig ist wie ein eigenes Kind für uns“, scherzt Herr Krömer mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Der Labrador Retriever gibt ein fröhliches Kläffen von sich und blinzelt mit den kreisrunden, braunen Äuglein. Dann leckt er kurz an den Pfoten.

Die Idee, Ludwig als „Mitarbeiter“ einzusetzen, sei zunächst aus dem Wunsch entstanden, den Hundebesitz mit dem eigenen Beruf zu verbinden. Doch gerade Frau Koops hat sich aus therapeutischer Sicht sehr viel von einem eigenen Therapiehund erhofft: „Ich habe vorher in einer Klinik gearbeitet, in der ein Therapiehund aktiv war. Dort konnte man bereits sehen, wie viele Charakterzüge des Patienten sich uns nur durch den Kontakt zum Hund offenbarten. Das wäre in einem klassischen Gespräch gar nicht möglich gewesen.“

Ludwig ist seit seiner achten Lebenswoche täglich in der Praxis. Er ist für alle als warmherziger, emotionaler Bezugspunkt bekannt. Schon von Beginn an übernahm das Ehepaar Ludwigs Training selbst. Erst für rund ein Jahr in der Hundeschule, dann in einer speziellen Ausbildung für Therapiehunde. Im Jahr 2017 absolvierte Ludwig erfolgreich einen Wesenstest des Deutschen Retriever Clubs e.V. und ist seit 2018 offiziell als Therapiehund zertifiziert. „Natürlich bringt das auch viel Arbeit mit sich. Ich trainiere mit ihm täglich mindestens 20 Minuten und wir müssen ihn regelmäßig untersuchen lassen“, erklärt Herr Krömer. Zwischendurch entsteht immer wieder der Eindruck, als würde Ludwig mit angewinkelten Ohren dem Gespräch stolz über sich selbst lauschen.

Die Kinder in der Praxis kommen meist durch simple, wenn auch für sie überaus faszinierende Übungen mit Ludwig in Kontakt. Zunächst drückt Thomas Krömer ihnen die Federtasche mit Ludwigs Leibspeise, Hirschlunge, in die Hand. Sofort blickt sie der Labrador erwartungsvoll an. Auf eine kurze Geste hin gehorcht er dann mit eleganten, nahezu lautlosen Bewegungen. „Für Kinder sind diese Übungen ziemlich überraschend. Denn viele sind es nicht gewohnt, so viel Einfluss in der Erwachsenenwelt zu haben. Da schafft ein Hund, der auf ihre Anweisungen hört, schnell Selbstvertrauen“, lobt der Psychiater den Prozess mit Ludwig. Mal steht der Labrador, der bei allen Therapiesitzungen anwesend ist, in direktem Kontakt mit den Kindern, mal fällt er kaum auf und schläft nur.

Laut Herrn Krömer reagiere jeder unterschiedlich auf Ludwig: „Welche Wirkung er entfaltet, ist, glaube ich, sehr individuell. Einige Kinder wollen nur kommen, wenn er da ist. Andere beachten ihn kaum. Ludwig ist hier der Unvoreingenommenste in der Praxis. Nicht ohne Grund hat er daher eine beruhigende Wirkung auf viele Patientinnen und Patienten, was bei der Psychotherapie viel hilft.“ Manche Kinder knuddeln mit ihm, einige überwinden durch ihn die Angst vor Hunden. Doch dabei bleibt es nicht. „Auch sein teils strenger Geruch eröffnet neue Möglichkeiten“, lacht Frau Koops, „denn dieser gibt Anlass, gerade in Gruppengesprächen auch mal über etwas unangenehmere Themen zu sprechen und sich den anderen zu öffnen.“

Das rote Tuch um Ludwigs Hals signalisiert ihm, dass er sich in therapeutischer Umgebung befindet. Doch er agiert natürlich nicht immer gleich. Ob er seine Fähigkeiten abrufen könne, sei laut dem Paar nämlich situations- und ortsabhängig. Mal klappt es draußen auf der Parkwiese, mal drinnen im Behandlungsraum – oder auch nicht. Das Wichtigste bleibt die Anwesenheit des mittlerweile sechs Jahre alten Labrador Retrievers. Schon nach wenigen Minuten schließlich scheint er einem vertraut – kein Wunder bei den erwartungsfreudigen Blicken Ludwigs, die jedes Kinderherz höherschlagen lassen.

Nicht nur bei den Kindern an der Alster in Hamburg sind Therapiehunde beliebt. Auch international hat diese Form von Therapie an Signifikanz gewonnen. Die Stiftung für Tierschutz „VIER PFOTEN“ ist hierfür mitverantwortlich. In Rumänien, Bulgarien und der Ukraine sind Straßenhunde ein echtes Problem. Kritisch ist in diesen Ländern die hohe Anzahl an streunenden Hunden. Sie vermehren sich unkontrolliert und es gibt zu wenige Tierheime, geschweige denn staatliche Kontrolle.

James Pirnay, internationaler Leiter des gesellschaftlichen Engagements, betont die Notwendigkeit des seit 2004 etablierten Programms: „Streunende Hunde leiden nicht nur selbst unter inakzeptablen Lebensbedingungen, sondern bringen auch gesellschaftliche Probleme mit sich, wie beispielsweise das Übertragen von Krankheiten.“ Daher möchte die Organisation die Tiere aus Hundeheimen holen und ihnen eine neue Perspektive bieten. Dadurch soll das gesellschaftliche Ansehen der Tiere erhöht werden.

Die Hunde werden für Therapiezwecke ausgewählt und 12 Monate lang ausgebildet. Danach wird in einem Zertifizierungsprozess überprüft, ob der Hund geeignet ist. Die Tiere leben mit ihren eigenen Hundeführern, die an dem Programm teilnehmen. Eine psychotherapeutische Sitzung besteht aus dem Patienten, Arzt sowie Hundeführer mit dem eigenen Therapiehund. „Es ist wichtig, dass der Hund nicht an die Organisation, sondern an den eigenen Besitzer gebunden ist. Denn nur dieser kann ihn wirklich verstehen. Hunde sind schließlich keine Menschen, auch wenn sie uns allen schnell ans Herz wachsen“, stellt James Pirnay klar.

Dass dieses Projekt eine wirkliche Herzensangelegenheit ist, beweist der Einsatz, den alle Beteiligten in der Ukraine zeigen. Pirnay zeigt sich hierüber fasziniert: „Mithilfe eines unserer Therapiehunde wurde ein ukrainischer Soldat nach wochenlangem Schweigen zum ersten Mal wieder zum Reden gebracht.“ Es scheint also kein Einzelfall zu sein, dass sich Patienten durch das neu gewonnene Vertrauen zum Hund öffnen und so von der Anwesenheit des Tiers profitieren. Wie sich das Programm in den nächsten Jahren entwickelt, bleibt spannend zu beobachten.

Herr Krömer und Frau Koops zumindest wissen, dass es in Zukunft für sie keinen zweiten Therapiehund geben wird: „Ludwig soll etwas Einzigartiges bleiben – nicht nur für uns, sondern auch für die Kinder in der Praxis.“ Nun nimmt Herr Krömer Ludwig das Tuch vom Hals: „Jetzt darf er auch mal Hund sein!“ Es ist Zeit für die Mittagspause. Ludwig spielt im Lohmühlenpark in St. Georg mit seinen vierbeinigen Freunden. Aus wenigen Metern Entfernung hört man immer wieder sein Bellen – er freut sich vermutlich schon wieder auf einen Mittagschlaf an seinem Lieblingsplatz.

 

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